Überlebensstrategien Zug fahren und Bahnhöfe

Reisen mit dem Zug bedeutet für mich persönlich eine große Herausforderung. Viele Reize prasseln auf mich ein, vor allem die lauten Geräusche und die vielen Menschen und Farben um mich herum bilden sich manchmal zu einem Strudel aus, der mich umkreist.

Auch für mein Familienmitglied bedeutet Zug fahren eine Herausforderung. Das letzte Jahr hindurch wurde es immer öfter mit dieser Begebenheit konfrontiert und meisterte auch Langstreckenzüge.
Von herausragender Bedeutung waren dafür die Sitzplatzreservierungen in den Zügen und auch das Reisen in der ersten Klasse. Zu wissen, wo sitze ich, wo muss ich hin, welchen Platz habe ich mir im Vorfeld aufgrund unterschiedlicher Gesichtspunkte ausgewählt war sehr unterstützend und wichtig. Situationen, in denen aufgrund unvorhergesehener Ereignisse Züge ausfielen oder Waggonreihungen Änderungen erfuhren waren eine Herausforderung für mein Familienmitglied, welche es auch öfter an seine Grenzen brachten.
Bei einem Erlebnis hielt der Zug an einem eigentlich nicht anzufahrenden Bahnhof und alle Passagiere mussten aus- und in einen anderen Zug an einem anderen Gleis umsteigen. In diesem neuen Zug hatte mein Familienmitglied keine Sitzplatzreservierung und auch der Weg durch einen fremden Bahnhof hin zu einem neuen Zug war schwer.
Mein Familienmitglied weiß wie es sich helfen kann, im Vorfeld wird mit den Eltern mögliche Eventualitäten abgesprochen und auch zwischendurch immer mal wieder bei Hilfebedarf mit dem Handy angerufen. So auch dieses Mal.
Es ist eine große Hilfestellung, wenn bewusst ist, was im Notfall zu tun ist, bzw. an wen man sich wenden kann.
Von Seiten der Bahn war klar, dass es dort für mein Familienmitglied stets Hilfestellung gegeben hätte und so wurde diese auch, besonders in solch unvorhergesehenen Situationen in Anspruch genommen.
Die Zugengel nahmen es in Empfang und begleiteten es, zusammen mit einem anderen hilfebedürftigen Menschen durch den Bahnhof zu dem anderen Zug. Es meisterte diesen Umstand toll, im Nachhinein berichtete es, dass ihn die neue Situation an seine Grenzen gebracht hatte, es war nun bei der weiteren Fahrt nach hause inmitten von fremden teils lauten Menschen, mit ihren Eigengerüchen und ohne Rückzugsort, da kein Sitzpatz in diesem Zug für es bereit stand. Innerlich schrie es und wollte raus aus dieser Situation, nach außen hin war es tapfer und meisterte diesen nervenaufreibenden Moment. Durch das Merkmal „B“ auf dem Schwerbehindertenausweis ist es meinem Familienmitglied möglich, kostenfrei eine unterstützende Begleitperson mitzunehmen, was es bei Reisen im öffentlichen Nahverkehr, beispielsweise mit dem Bus in die größere Nachbarstadt, gerne nutzt. Eine weitere Person, gerade wenn diese um die Besonderheiten und Bedürfnisse Bescheid weiß, kann viel abpuffern und große Hilfestellungen leisten. Gespräche mit fremden Personen können so auf die Begleitung umgeleitet werden und bei Verlust der Orientierung kann sie Halt geben.

Bei einer weiteren unvorhergesehenen Zugausfallsituation war mein Familienmitglied sogar in der Lage sich einer älteren Dame in einem der Abteile anzuvertrauen, sodass beide sich in der neuen Situation gegenseitig unterstützen konnten. Dies ist so mutig und wir sind unheimlich stolz auf mein Familienmitglied, dass es dazu in dem Moment der Aufregung in der Lage war. Gemeinsam als Team meisterten die beiden die Turbulenzen der Reise und stiegen an ihrem Zielbahnhof aus.
Mein Familienmitglied besitzt bei der Deutschen Bahn einen eigenen Account, es informiert sich stets über die für ihn besten optimalen Verbindungen und bleibt auch auf dem Laufenden, um bei Änderungen möglichst frühzeitig Bescheid zu wissen.

Nicht nur ungeplante Änderungen des Reisewegs und der Wagenreihungen können für stressige und unangenehme Situationen sorgen, auch wenn der Zug planmäßig und sogar pünktlich fährt ist eine Reise mit diesem nicht immer einfach.

Ich möchte euch mitnehmen, eine Zugreise mit meinen Augen zu sehen und zu empfinden.

Die Anzeige „Hauptbahnhof“ ertönt und ich steige aus dem Bus. Der Bahnhofsvorplatz ist weit, vorallem weitläufig, rechts etwas neben dem Haupteingang steht noch das Häuschen in dem der stadtbekannte Obsthof seine leckeren Erdbeeren verkauft. Ich schiebe mich durch die Menschen hindurch, strebe dem Haupteingang entgegen und fühle mich an eine Biene mitten in einem Schwarm erinnert. Ich habe Kopfhörer in meinen Ohren mit mir angenehmer Musik und trotzdem habe ich das Gefühl, das Stimmengewirr dringt wie Summen durch meinen Körper, auf einer Frequenz, die ich nicht ausschalten kann.
Beim Betreten der Bahnhofshalle fällt mein erster Blick auf die große Anzeigetafel, bei der ich mich mehrmals versichere, ob mein Zug auch wie geplant an dem vorgesehenen Gleis einfährt. Dies tut er und auch Verspätungen sind keine angesagt. Ich drücke meine Tasche eng an mich und versuche ruhiger zu werden. Mich regen die vielen Menschen auf, ich passe auf über keine Koffer zu stolpern und suche mir etwas abseits vom Eingang einen Ort an dem ich einen Moment stehe und warte, bevor ich mich zum Gleis bewege.
Der Gang zu den Gleisaufgängen ist voller Menschen, die in die entgegengesetzte Richtung von mir drängen und eine Hektik verbreiten. Ich fühle ihren Zeitdruck, ihre Vorfreude, ihre Genervtheit, es ist ein Meer von Empfindungen und Gesichtsausdrücken das auf mich hereinprasselt.
Am Treppenaufgang der Gleise angekommen frage ich mich stets aufs neue, steige ich die linke Treppe herauf oder die rechte? Im Prinzip ist es egal, beide führen ja zum selben Gleis und oben angekommen kann ich mich frei bewegen. Doch diese Entscheidung ist jedes Mal aufs neue aufregend für mich. Diesmal wähle ich die linke Treppe und stehe schließlich oben am Gleis. Etwas abseits positioniere ich mich und warte auf die Einfahrt meines Zuges. Menschen gehen an mir vorbei, einige viel zu eng, was mich aufregt und was ich nicht verstehe, denn um mich herum ist genug Platz, keiner müsste meinen Wohlfühlabstand unterschreiten. Manche sind in Gespräche vertieft und bekommen es deshalb vielleicht nicht mit, andere merken es einfach so nicht. Ich mag dies gar nicht, fremde und mir unangenehme Menschen sollten einen gewissen Abstand zu mir auf keinen Fall unterschreiten.
Bis zur Einfahrt des Zuges spule ich in meinen Gedanken die Fahrtrichtung ab. Jedes Mal aufs neue vergesse ich, in welche Richtugn er abfährt und wie ich meinen Sitzplatz suchen sollte, um vorwärts fahren zu können. Diese Gedankengänge bin ich ein dutzend Mal in meinem Kopf durchgegangen, bis der Zug schließlich hält.

Das Gedränge an den Türen ist anstrengend und betrete ich den Zug ist dies bereits ein großer Schritt.
Ich haste entlang der Sitzreihen und entscheide mich für einen Zweierplatz. Hoffentlich setzt sich niemand neben mich.
Vierer- und auch Dreierplätze meide ich, wenn es geht. Wenn mir die ganze Zeit jemand gegenüber sitzt wird das schnell zu viel für mich. Ich weiß nicht wo ich hinschauen soll, meine Augen finden keinen Ruhepol. Wenn derjenige sich dann auch noch viel und hektisch bewegt, wird es noch anstrengender für mich. Manchmal möchten Menschen dann ein Gespräch mit mir anfangen, mustern mich und sprechen mich an. Es gab schon Situationen in denen ich mich dann weggesetzt habe, weil ich Ruhe brauchte. Gerüche von Essen und auch Gerüche von Menschen sind ebenfalls Faktoren die in den Zugfahrten entscheidend sind.

Dinge die ich grundsätzlich im Zug nicht mache: Meinen Kopf an die Scheibe legen. Die kleinen Mülleimer an den Sitzen benutzen/ anfassen.
Ansich so wenig wie möglich anfassen.
Nicht mit unbedeckten Körperstellen den Sitz berühren.
Lesen und nach unten schauen, das wird mir schnell zu viel.

Ich höre Musik und die Kopfhörer dämpfen etwas die Umwelt ab. Zugleich bin ich auf Spannung, bis der Schaffner da war und mein Ticket gesehen hat.
Einmal habe ich es zu spät wahrgenommen und der Kontrolleur tickte mich unsanft an, wodurch ich mich so erschrocken hatte dass ich am liebsten nach seiner Hand geschlagen hätte. Ich mag es gar nicht angetickt zu werden, dass ist einer der schlimmsten Form der Berührung für mich. Es machte mich wütend und ich war drauf und dran zu rufen „Fassen Sie mich nicht an!“. Dies tat ich nicht, zeigte nur meine Karte vor und versuchte danach mich wieder zu beruhigen, was längere Zeit in Anspruch nahm und sehr anstrengend für mich war.
Beim nächsten Bahnhof setzt sich eine Frau neben mich. Ihre Tasche berührt immer wieder mein Bein, nicht mit Absicht, aber bei kleinen Erschütterungen. Ich schaue immer wieder zur Tasche hin, die Frau bemerkt meinen Blick leider nicht. Ich bin nicht mehr in der Lage sie anzusprechen, weil ich erschöpft und angestrengt bin. Ich schiebe meine Tasche ein großes Stück nach rechts, sodass ihre Tasche nicht mehr mein Bein, sondern meine Tasche berührt, sie bekommt es mit und schaut erstaunt herüber. Sie nimmt ihre Tasche etwas weg, ich lasse meine dort wo sie ist.
Die Zugfahrt verstreicht und der Ausstieg rückt näher. Ich schultere meine Habseligkeiten und begebe mich zur Zugtür. Das Geländer berühre ich nur mit meinem Jackenärmel oder meiner Armbeuge.
Der Zug hält an und ein großer Schwall Menschen ergießt sich auf das Bahnhofsgleis. Alle streben sofort den Treppen Richtung Bahnhofshalle entegegen, ich ziehe mich heraus aus dem Strom und warte etwas, bis der Andrang abgeebbt ist. Dieser Bahnhof ist größer als der meiner Heimatstadt, das bedeutet noch mehr Menschen und vorallem noch mehr Hektik. Ich kenne mich in diesem Bahnhof mittel gut aus und bin jedes Mal aufgeregt, bevor ich die Halle betrete. Ich schalte meine Handymusik um, höre jetzt Radio. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass mich dies beruhigt, ich muss keine Lieder selber wählen oder weiterschalten und die Frequenzen in welchen die Radiolieder gespielt werden sind sehr gleichbleibend und dadurch beruhigender für mich. Würde ich nun Musik mit starkem Bass oder schnell ändernder Klänge hören wäre dies nicht unterstützend für mich.
Ich drücke Tasche wieder nah an mich heran, kontrolliere ob alle Reißverschlüsse verschlossen sind und wage mich die Treppe hinab, zur Bahnhofshalle.
Menschen gehen durcheinander, telefonieren laut mit dem Handy, viele Rollkoffer umgeben mich. Ich versuche mich zu orientieren und suche die Schilder ab nach dem Ausgang, den ich nehmen wollte. Eine Frau rempelt mich an, ich erschrecke mich und versuche den Ort abzuscannen um mich daraufhin etwas abseits zu positionieren.
Essensgeruch umfängt mich, ein Mann spricht mich an und fragt nach Geld. Ich gehe einfach mit der Menge mit und lasse mich herausströmen. Vor dem Banhof fällt mir auf, dass ich den falschen Ausgang benutzt habe.
Ich öffne Goggle Maps und folge nun einem anderen Weg in Richtung meines angestrebten Zieles. Ich bin froh, dass ich heute nicht umsteigen muss, vorallem die Weiterreise mit S- oder U-Bahnen ist schwierig für mich, weil ich große Schwieirgkeiten habe mich zu orientieren. Herauszufinden in welche Fahrtrichtung der Linie ich einsteigen soll bedarf höchster Konzentration.
Je weiter ich den Bahnhof hinter mir lasse, umso ruhiger werde ich. Ich bin stolz, dass ich die Reise gemeistert habe und beschließe, mir für die Rückfahrt etwas vom Bäcker zu holen. Ich präge mir ein, in welche Fahrtrichtung ich mich hinsetzen muss um vorwärts fahren zu können und kalkuliere in meinem Kopf, wann ich am Gleis ankommen und auf meinen Zug warten möchte.
Mal schauen, wie die Rückfahrt werden wird.

3 Gedanken zu “Überlebensstrategien Zug fahren und Bahnhöfe

  1. Ich nehme einen Zug früher, weil der Anschlusszug dann nicht so voll ist. Mich möglichst weit vorne in den Zug setzen, um schnell den Bahnsteig zu wechseln. Der erste Umsteigebahnhof ist nämlich ein Kopfbahnhof. Der zweite Umsteigebahnhof ist der Berliner Hauptbahnhof. Ich finde den grauenvoll in Sachen Orientierung. Noch ein Objekt des Grauens: volle Regionalzüge. Es sitzt garantiert jemand neben dir. Zusätzlich von Gepäck eingequetscht. Ich mache innerlich zehn Kreuze, wenn ich meinen Zielbahnhof erreicht habe. Und Best Case habe ich am Ende der Zugfahrt noch etwas Zeit, um von diesem Stress runterzukommen. Dann steht mir noch ein Abenteuer bevor: Ich fliege zum ersten Mal ganz alleine. Und: Diesen Flughafen kenne ich noch nicht. Plus: Zum ersten Mal auch lande ich am geplanten Zielflughafen. Noch ein Angstgegner: Die Sicherheitskontrolle am Ziel. Die gelten als gründlich. Andrerseits gibt es online für alles Pläne…

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    1. Ich wünsche dir viel Erfolg für deinen Flug und vorallem für den Aufenthalt am Flughafen.
      Das stimmt, es gibt Pläne und du wirst es bestimmt gut meistern. 🙂
      Es tut gut zu lesen, wie andere es mit den Zügen und dem Reisen handhaben.

      Liebe Grüße, Anna

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  2. Angekommen bin ich gut, besser als erwartet. Nächste Woche flieg ich zurück. Wird es ähnlich laufen? Neues Problem werde ich auf jeden Fall haben: mich wieder an deutsche Beschriftungen und Durchsagen zu gewöhnen. Und überhaupt an Deutschland. Die Zeitverschiebung ist das geringste Problem.

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