Ich bin Autistin – und stolz darauf!

Was für ein provokanter Titel. Ich habe ihn bewusst gewählt.

Gestern Abend saßen mein Freund und ich gemeinsam vor dem Fernseher. Seit ein paar Tagen verfolgen wir die Serie „Hannibal“, in dem einer der Hauptcharaktere, Will Graham, bereits in der ersten Folge von sich erzählt, dem Autismusspektrum nahe zu stehen, genauer gesagt den Aspergern.
Wir befinden uns mitten in der ersten Staffel und ich sagte zu meinem Freund, dass mich irgendetwas störe. Ein paar Augenblicke später fiel es mir wie Schuppen von den Augen; Die Serie lässt mich Mitleid mit Will fühlen.

Er tut mir leid.

Wieso ist das so? Wieso suggerieren viele Beiträge in der Medienlandschaft, dass Autisten Menschen sind, die einem leid tun sollten.

Autismusspektrum ist Vielfalt.

Ich bin gerne Autistin. Und ich sage es aus vollem Bewusstsein. Ich bin gerne ich, mit allem was es ausmacht.

Ich schaue Menschen manchmal nicht in die Augen, das stimmt. Ist das schlimm?
Es ist weder provokant gemeint, noch lässt es auf die Aufmerksamkeit schließen, die ich meinem Gegenüber vermeintlich nicht zu Teil kommen lasse. Ich kann mich dadurch schlichtweg besser konzentrieren.
Abhängig von Tagesform und Grundverfassung ist dies ausgeprägter oder weniger ausgeprägt. Im Prinzip merkst du nur, dass ich Autistin bin, wenn ich möchte, dass du es merkst. Oder wenn Du ein sehr geschultes Auge hast.

Ich bin gerne Autistin. Ich habe Leidenschaften und Interessen, die mich eine tiefe und aufrichtige Freude empfinden lassen. Die mich die Zeit um mich herum vergessen lassen. In denen ich aufgehe.

Alles was Menschen an dem Spektrum als negativ erachten, ist Wahrnehmungssache.
Es gibt vieles was mich traurig macht, an der Grundsituation, an rechtlichen Dingen, an gesellschaftlichen Hürden und menschlicher Engstirnigkeit.

Doch dies hat nichts mit mir persönlich, nichts mit mir als Mensch und meinem Wesen zu tun. Es tangiert nicht das was ich bin, meine Existenz.

Ich bin Autistin, doch im Grunde bin ich schlicht und ergreifend ein Mensch. Ich bin Tochter, Enkelin, Lebensgefährtin. Schwester, Freundin. Ich bin ein Frauchen, ich bin eine Idealistin.

Ich bin begeisterungsfähig, wissbegierig, fleissig, tolerant und offen. Ich bin zuverlässig, treu und stolz.
Das ist es was ich bin, nicht, was die Gesellschaft mir zuschreibt wie ich sein sollte.

Ich bin Autistin – und stolz darauf! Weil ich stolz auf mich bin.

Mein Autismus lässt mich ehrlich sein. Er lässt mich Werte als wichtig und unbedingt erstrebenswert erachten. Durch ihn versuche ich Tag für Tag ein guter Mensch zu sein.
Ich scheine naiv zu wirken, weil ich grundsätzlich davon ausgehe, dass Menschen es ähnlich sehen wie ich und/ oder ähnlich betreiben. Fair sind, es gut meinen und gerne teilen.
Doch ich bin der tiefsten Überzeugung, dass das ins Leben kommt, was ein jeder selber in sein Leben zieht, worauf er den Fokus setzt.
Ich setze den Fokus auf ein glückliches, loyales Miteinander. Auf Teamgeist, warme Worte, ehrliches Feedback.

Mein Autismus lässt mich mich und meinen Körper anders wahrnehmen. Ich reflektiere Tag für Tag meine körperliche und sinnliche Wahrnehmung.
Was sagt mir mein Bauch, was sagt mir mein Gefühl, was sagt mir mein Geist.
Ich kleide mich in weiche Materialien, ich esse die Lebensmittel, die ich vertrage. Ich bin vielleicht „empfindlich“, doch dies lässt mich mich fühlen und Dinge anpassen, sind sie nicht optimal für mich.

Ich gebe keine Verantwortung für mich ab, laufe nicht davon, schiebe nichts auf andere. Ich fühle mich so intensiv, dass ich nur bei mir ansetzen kann.
Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht an anderer Stelle arbeiten, meine Empfindungen, mein Ich wären zu präsent.

Mein Autismus schärft meine Sinne. Farben, Gerüche, Licht, Kälte, Musik, Kunst, ich nehme alles intensiv wahr. Ich habe einen intensiven Bezug zu meiner Umwelt.
Ich möchte mich ab und an abkapseln, schützen vor der Umwelt und den Reizen, die auf mich einströmen, doch es ist ein Geschenk.
Ich sehe es als Geschenk. Facetten und Begebenheiten, die andere nicht einmal sehen, nicht wahrnehmen, kann ich betrachten. Kann ich erleben und fühlen.
Ich sehe und fühle anders, vielleicht mehr, intensiver. Ich betrachte es als Vielfalt, nichts als Makel.

Mein Autismus lässt mich Grenzen ziehen. Er hat mir früh aufgezeigt, auf mich zu achten, ich übe zurzeit „Nein“ zu sagen.
Er lässt es nicht zu, dass ich mich überarbeite, gegen meine Prinzipien lebe.
Er gibt mir den Freiraum und den Spielraum mich abzugrenzen.
Die Legitimation, anders zu sein.
Ich darf anders sein, anders leben. Ich darf die Nacht zum Tag und den Tag zur Nacht machen.
Ich darf still sein, verwunderlich sein.

Mein Autismus veredelt mich.

Mein Autismus lässt mich die Welt aus einem anderen Blickwinkel betrachten.
Er lässt mich andere Fragen stellen, unkonventionelle Schlüsse ziehen, andere Wege gehen.
Er lässt mich nicht nur schwarz und weiß sondern millionen Farben, Formen, Regenbogen, Zeitebenen und Parallelen wahrnehmen.
Er lässt manchmal Musik und Farben schmecken, Zahlen erklingen, und die Zeit sich auflösen.

Ein jeder Mensch ist anders. Genau wie ein jeder Autist, eine jede Autistin.
Sie haben unterschiedliche Themen, andere Dinge mit denen sie und ihre Angehörigen konfrontiert werden.

Ihnen allen gemein, ist die tiefe Liebe und Akzeptanz, die die Gesellschaft ihnen entgegenbringen sollte.
Die sie einem jeden Menschen, einem jeden Lebewesen auf dieser Welt schenken sollte.

Nennt mich eine Träumerin, doch das ist meine Vision dieser Welt. Das sind die Chancen, die ich sehe.

Mit meinen Worten möchte ich nichts klein reden, nichts abtun.
Keinen Schmerz, keine Herausforderungen, keine Sorgen verschleiern.
Niemanden angreifen.

Im Gegenteil, ich möchte, dass die Möglichkeit gesehen wird, Stolz zu empfinden.

Ich möchte eine andere Tür aufstoßen. In einen anderen Raum.

8 Gedanken zu “Ich bin Autistin – und stolz darauf!

  1. Das hast du sehr schön geschrieben 🙂
    Ich sehe es ganz genau so. Autismus als Bereicherung, nicht als Makel. Wenn Autisten in den Medien nicht mehr als bemitleidenswerte Behinderte dargestellt würden, sondern als starke, selbstbewusste Persönlichkeiten mit ihren speziellen Stärken, dann würde sich auch ganz allgemein das Bild vom Autismus wandeln und längst nicht mehr so viele Menschen im Spektrum hätten ein Problem mit ihrem Anderssein. Denn meiner Meinung nach ist das Hauptproblem, mit dem sehr viele von uns zu kämpfen haben, der Mangel an Respekt von der Gesellschaft und nicht die etwas andere Wahrnehmung an sich.

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    1. Ich danke dir für dein Feedback!
      Toleranz und Offenheit gegenüber der Vielfalt und Mannigfaltigkeit lässt eine Gesellschaft wachsen. Potenziale erkennen und fördern, ganz gleich in welchem Menschen sie schlummern.
      Ich bin gespannt auf die Zukunft und wünsche uns allen das Allerbeste. 🙂

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  2. Vielen Dank für dieses wundervolle Ich.
    Ich kam über den reblogg von Sinnesstille hier her und wäre glücklich, ein kleines bißchen von dir auch haben zu können. I´m on the way.
    Es ist gut, dich so zu sehen; so zu lieben und Du zu sein.
    Liebe Grüße von mir, die wohl ein völlig anderes Thema und doch ein ähnliches Ziel hat.
    Luise

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    1. Liebe Luise,
      Vielen Dank für deine warmen und lieben Worte, ich freue mich sehr darüber! Wirklich, vielen Dank! ❤
      Ich wünsche dir von Herzen, dass du deinem Ziel Schritt für Schritt näher kommst, mit Selbstliebe, Freude und vorallem so, dass du dich wohl fühlst.
      Deine Anna

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